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Der § 35a SGB VIII (mit Anmerkungen)

Sozialgesetzbuch (SGB) - Achtes Buch (VIII) - Kinder- und Jugendhilfe - (Artikel 1 des Gesetzes v. 26. Juni 1990, BGBl. I S. 1163) § 35a Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit seelischer Behinderung oder drohender seelischer Behinderung

(1) Kinder oder Jugendliche haben Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn

  1. ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht, und

Diese Formulierung hat eine doppelte Funktion:

  • Sie stellt sicher, dass die Beeinträchtigung dauerhaft bzw. mit hoher Wahrscheinlichkeit dauerhaft ist.
  • Sie grenzt vorübergehende Belastungen (z. B. akute Lebenskrisen, kurzfristige Entwicklungsprobleme) von einer seelischen Beeinträchtigung mit chronischem oder längerfristigem Charakter ab.

Die Dauer von sechs Monaten ist keine starre Frist im Alltag, aber ein Indikator dafür, dass die Störung nicht rein situativ ist, sondern sich erwartbar fortsetzt. Eine Gütersystematik orientiert sich dabei an klinischen Leitlinien psychischer Störungen (ICD-Kriterien).

  1. daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist.

Nicht allein das Vorliegen einer Diagnose begründet den Anspruch, sondern die Auswirkung der Störung auf die gesellschaftliche Teilhabe. Teilhabe bedeutet u. a.:

  • Teilnahme am Unterricht, Ausbildung oder Beschäftigung
  • soziale Beziehungen und Peer-Interaktion
  • selbstständige Alltagsgestaltung
  • Freizeitaktivitäten

Diese Formulierung verlangt eine bio-psycho-soziale Betrachtung: Die psychische Störung muss zu konkreten Leistungseinschränkungen führen, die die Entwicklung und den sozialen Anschluss gefährden.

Von einer seelischen Behinderung bedroht im Sinne dieser Vorschrift sind Kinder oder Jugendliche, bei denen eine Beeinträchtigung ihrer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. § 27 Absatz 4 gilt entsprechend.

„Von einer seelischen Behinderung bedroht …“
Diese klargestellte Definition erlaubt einen präventiven Anspruch, auch bevor die volle Teilhabebeeinträchtigung vorliegt. Entscheidend ist, dass nach fachlicher Erkenntnis (also diagnostisch und fachlich fundiert) ein hoher Grad der Wahrscheinlichkeit besteht, dass die Teilhabe eingeschränkt wird.

Dies entspricht dem modernen Verständnis von Behinderung als Prognose- und Risikokonzept: Hilfe wird nicht erst bei maximaler Ausprägung erbracht, sondern präventiv, um Eskalationen zu vermeiden.

(1a) Hinsichtlich der Abweichung der seelischen Gesundheit nach Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 hat der Träger der öffentlichen Jugendhilfe die Stellungnahme

  1. eines Arztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie,
  2. eines Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, eines Psychotherapeuten mit einer Weiterbildung für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen oder
  3. eines Arztes oder eines psychologischen Psychotherapeuten, der über besondere Erfahrungen auf dem Gebiet seelischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen verfügt, einzuholen. Die Stellungnahme ist auf der Grundlage der Internationalen Klassifikation der Krankheiten in der vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte herausgegebenen deutschen Fassung zu erstellen. Dabei ist auch darzulegen, ob die Abweichung Krankheitswert hat oder auf einer Krankheit beruht. Enthält die Stellungnahme auch Ausführungen zu Absatz 1 Satz 1 Nummer 2, so sollen diese vom Träger der öffentlichen Jugendhilfe im Rahmen seiner Entscheidung angemessen berücksichtigt werden. Die Hilfe soll nicht von der Person oder dem Dienst oder der Einrichtung, der die Person angehört, die die Stellungnahme abgibt, erbracht werden.

Dieser Absatz ist ein wesentlicher Erweiterungstatbestand und regelt, welche fachärztlichen bzw. psychotherapeutischen Stellungnahmen zur Feststellung der seelischen Abweichung einzuholen sind.

Warum wichtig?

  • Er schafft eine qualitative Standardisierung der Diagnostik.
  • Er fordert Stellungnahmen nach ICD-Klassifikation (International Classification of Diseases), was die Grundlage wissenschaftlicher Diagnostik ist.
  • Er stärkt die Rechtssicherheit für die Entscheidung des Jugendamtes, indem er festlegt, welche Fachpersonen im Einzelfall herangezogen werden müssen.

(2) Die Hilfe wird nach dem Bedarf im Einzelfall

  1. in ambulanter Form,

individuelle Begleitung, Teilhabeassistenz, pädagogische Förderung vor Ort.

  1. in Tageseinrichtungen für Kinder oder in anderen teilstationären Einrichtungen,

Tagesgruppen, therapeutisch-pädagogische Angebote.

  1. durch geeignete Pflegepersonen und

Pflegefamilien mit spezieller Eignung bei psychischer Beeinträchtigung.

  1. in Einrichtungen über Tag und Nacht sowie sonstigen Wohnformen geleistet.

Intensivere Betreuung, z. B. in Einrichtungen mit therapeutischer Ausrichtung.

Die Hilfeformen richten sich nach dem Hilfebedarf im Einzelfall und nicht nach einer festen Rangfolge. Der Jugendhilfeträger („Träger der öffentlichen Jugendhilfe“) hat hier ein steuerndes Ermessen auf Grundlage der Hilfeplanung § 36 SGB VIII.

(3) Aufgabe und Ziele der Hilfe, die Bestimmung des Personenkreises sowie Art und Form der Leistungen richten sich nach Kapitel 6 des Teils 1 des Neunten Buches sowie § 90 und den Kapiteln 3 bis 6 des Teils 2 des Neunten Buches, soweit diese Bestimmungen auch auf seelisch behinderte oder von einer solchen Behinderung bedrohte Personen Anwendung finden und sich aus diesem Buch nichts anderes ergibt.

(4) Ist gleichzeitig Hilfe zur Erziehung zu leisten, so sollen Einrichtungen, Dienste und Personen in Anspruch genommen werden, die geeignet sind, sowohl die Aufgaben der Eingliederungshilfe zu erfüllen als auch den erzieherischen Bedarf zu decken. Sind heilpädagogische Maßnahmen für Kinder, die noch nicht im schulpflichtigen Alter sind, in Tageseinrichtungen für Kinder zu gewähren und lässt der Hilfebedarf es zu, so sollen Einrichtungen in Anspruch genommen werden, in denen behinderte und nicht behinderte Kinder gemeinsam betreut werden.

§ 35a ist damit keine isolierte Norm, sondern Teil eines Systems, in dem:

  • Hilfen zur Erziehung (§§ 27ff.)
  • Eingliederungshilfe (§ 35a)
  • Hilfeplanung (§§ 36ff.)
  • Hilfe für junge Volljährige (§§ 41ff.)
    zusammenwirken.

In der Praxis wird oft zusätzlich geprüft, ob eine gleichzeitige Hilfe zur Erziehung notwendig ist oder ob beide Hilfen kombiniert werden können, um den individuellen Bedarf vollständig abzudecken.

Zusammenfassung der Bedeutung für die Praxis

Juristisch:

  • § 35a begründet einen gesetzlichen Anspruch auf Eingliederungshilfe.
  • Der Anspruch besteht unabhängig von der Hilfe zur Erziehung.
  • Die Hilfe muss dem Einzelfall gerecht werden und folgt den Regeln der Hilfeplanung (§§ 36ff. SGB VIII).

Fachlich/pädagogisch:

  • Ausgangspunkt ist die Diagnose und deren Auswirkungen auf Teilhabe.
  • Pädagogische Begleitung ist Teil eines interdisziplinären Hilfesystems (Psychotherapie, Schule, Jugendhilfe).
  • Die Hilfeplanung zielt auf Teilhabe, Stabilisierung und Entwicklung statt nur auf Erziehung.

Quelle Gesetzestext: Bundesamt für Justiz, Gesetze im Netz, stand 18.12.2025

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