Hilfe gemäß § 35a SGB VIII – Fachliche Einordnung, pädagogische Praxis, Mehrwerte und Antragstellung ¶
Die Hilfe nach § 35a SGB VIII ist eine spezialisierte Leistung der Kinder- und Jugendhilfe für Kinder und Jugendliche mit seelischer Behinderung oder für jene, die von einer seelischen Behinderung bedroht sind.
Ziel dieser Hilfe ist es, die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sicherzustellen oder wiederherzustellen, wenn diese aufgrund einer psychischen Beeinträchtigung wesentlich eingeschränkt ist.
Wesentlich ist dabei:
§ 35a richtet sich nicht primär an Erziehungsprobleme, sondern an psychische Störungen, die die Entwicklung, Alltagsbewältigung und soziale Integration des jungen Menschen erheblich beeinträchtigen.
1. Juristische Bedeutung von § 35a SGB VIII ¶
§ 35a SGB VIII ist eine Rechtsanspruchsnorm.
Das bedeutet: Sind die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt, muss das Jugendamt die Hilfe gewähren. Es handelt sich nicht um eine freiwillige oder rein pädagogisch begründete Unterstützung, im Gegensatz zu andere Hilfeleistungen.
📌 Gesetztestext § 35a SGB VIII (mit Anmerkungen)
Für junge Menschen und ihre Familien bedeutet dies:
- eine stärkere rechtliche Absicherung
- eine klarere Position im Hilfeplanverfahren
- bessere Möglichkeiten, Entscheidungen überprüfen zu lassen
- höhere Planungssicherheit bei längerfristigen Bedarfen
Zentrale rechtliche Voraussetzungen ¶
a) Abweichung der seelischen Gesundheit ¶
Eine Abweichung der seelischen Gesundheit liegt vor, wenn:
- eine psychische Störung besteht (z. B. Angststörung, Depression, ADHS, Traumafolgestörung, Autismus-Spektrum-Störung),
- diese mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate andauert oder bereits andauert,
- und sie fachlich (ärztlich oder psychotherapeutisch) bestätigt ist.
Wichtig für pädagogische Fachkräfte:
Es geht nicht darum, selbst Diagnosen zu stellen.
Entscheidend ist, die Auswirkungen der Störung im Alltag nachvollziehbar zu beschreiben.
Beispiel:
Ein Jugendlicher mit einer Angststörung wirkt im Alltag vermeidend, zieht sich zurück, meldet sich häufig krank und meidet Gruppen – auch wenn er kognitiv leistungsfähig wäre.
b) Teilhabebeeinträchtigung – der Kern von § 35a ¶
Eine Diagnose allein reicht nicht aus.
Zentral ist die Frage: Wird die altersangemessene Teilhabe am Leben wesentlich eingeschränkt?
Teilhabe bedeutet konkret:
- regelmäßiger Schul- oder Ausbildungsbesuch
- soziale Kontakte zu Gleichaltrigen
- Beteiligung an Freizeitaktivitäten
- Entwicklung von Selbstständigkeit
- Nutzung von Bildungs- und Entwicklungschancen
Beispiel:
Ein Kind mit ADHS hat nicht nur Konzentrationsschwierigkeiten, sondern wird regelmäßig aus Gruppen ausgeschlossen, gerät in Konflikte, erlebt Ablehnung und verliert dadurch soziale Anschlussfähigkeit.
2. Abgrenzung zu Hilfen nach § 27 SGB VIII ¶
| § 27 SGB VIII | § 35a SGB VIII |
|---|---|
| Erzieherischer Bedarf | Psychische Beeinträchtigung |
| Familiensystem im Fokus | Individuelle Teilhabeeinschränkung |
| Pädagogische Problemlösung | Pädagogisch-therapeutische Verzahnung |
| Ermessensleistung | Rechtsanspruch |
Wichtig für die Praxis:
§ 35a ist keine „höhere“ oder „bessere“ Hilfe, sondern eine andere fachliche Zuständigkeit.
Eine Umstellung bedeutet nicht, dass bisherige pädagogische Arbeit gescheitert ist.
3. Pädagogische Relevanz – veränderter Blick auf Verhalten ¶
Mit § 35a verändert sich die pädagogische Perspektive grundlegend.
Verhalten wird nicht mehr primär als:
- Regelverstoß
- Widerstand
- mangelnde Motivation
interpretiert, sondern als:
- Ausdruck innerer Überforderung
- Bewältigungsstrategie
- Reaktion auf psychische Belastung
Beispiel:
Ein Jugendlicher verweigert Gruppenangebote nicht aus „Unwillen“, sondern weil soziale Situationen starke Angst oder Reizüberflutung auslösen.
Pädagogische Zielsetzung unter § 35a ¶
Pädagogische Ziele orientieren sich an:
- emotionaler Stabilisierung
- Reduktion von Überforderung
- Aufbau von Selbstregulationsfähigkeiten
- Ermöglichung konkreter Teilhabe
Nicht im Vordergrund stehen:
- Sanktionen
- Druck zur Anpassung
- reine Verhaltenskorrektur ohne Ursachenbezug
Beziehungsgestaltung ¶
Pädagogische Beziehungen dienen hier vor allem als:
- verlässlicher Rahmen
- sichere Bezugsebene
- Orientierungshilfe im Alltag
Beispiel:
Ein Kind mit Traumafolgestörung profitiert weniger von Konsequenzen, sondern von Vorhersehbarkeit, Transparenz und emotionaler Sicherheit.
4. Zusammenarbeit mit Therapie und Schule ¶
§ 35a macht interdisziplinäres Arbeiten notwendig:
- Abstimmung mit Psychotherapie oder Psychiatrie
- enge Kooperation mit Schule
- klare Rollenklärung zwischen Förderung, Therapie und Alltag
Pädagogische Fachkräfte übernehmen häufig die Rolle von:
- Übersetzer;innen zwischen den Systemen
- Koordinator;innen von Teilhabeprozessen
- stabilen Bezugspersonen im Alltag
5. Konkrete Mehrwerte für den Hilfeempfänger ¶
Durch den Wechsel zu § 35a verändert sich die Hilfeplanung spürbar.
Passgenauere Unterstützung ¶
- Ziele werden realistischer und kleinschrittiger formuliert
- Fortschritte werden an Teilhabe gemessen, nicht an „Anpassung“
- Der junge Mensch erlebt Hilfe weniger als „Erziehung“, sondern als Unterstützung
Beispiel:
Statt „regelmäßiger Schulbesuch“ wird zunächst das Ziel formuliert, zweimal pro Woche angstfrei am Unterricht teilzunehmen.
Zugang zu ergänzenden Leistungen ¶
§ 35a erleichtert die Beantragung z. B. von:
- Schulbegleitung (wird in der Regel von den Schulen gestellt, nachdem eine Hilfe gem. § 35a läuft)
- Ergotherapie
- strukturierender Teilhabeassistenz
Dies senkt Hürden und erhöht die Wirksamkeit der Hilfe.
Rechtliche und planerische Sicherheit ¶
- höhere Stabilität bei Hilfefortschreibungen
- weniger abrupte Hilfeabbrüche
- bessere Vorbereitung auf Übergänge
Perspektive über die Volljährigkeit hinaus ¶
§ 35a kann eine Brücke zu Leistungen nach SGB IX bilden:
- frühzeitige Anerkennung teilhaberelevanter Einschränkungen
- vorbereitete Übergänge
- mehr Kontinuität im Hilfesystem
6. Antragstellung – praxisnah erklärt ¶
Wann ist eine Umwandlung sinnvoll? ¶
Leitfrage:
Würde sich der Hilfebedarf deutlich reduzieren, wenn die psychische Beeinträchtigung angemessen behandelt wäre?
Wenn ja, spricht dies klar für § 35a.
Diagnostische Grundlage ¶
Erforderlich sind:
- aktuelle fachärztliche oder psychotherapeutische Stellungnahmen
- klare Beschreibung der funktionalen Auswirkungen
Nicht ausreichend:
- pädagogische Vermutungen
- schulische Einschätzungen ohne medizinischen Bezug
Beschreibung der Teilhabeeinschränkung ¶
Wichtig ist die Darstellung konkreter Alltagsfolgen:
- Schulvermeidung
- soziale Isolation
- massive Konflikte
- Rückzug oder emotionale Eskalationen
Pädagogische Einschätzung ¶
- beobachtbares Verhalten beschreiben
- Grenzen pädagogischer Mittel benennen
- nicht pathologisieren, nicht diagnostizieren
Beteiligung des jungen Menschen ¶
- verständliche Erklärung des Antrags
- Raum für Fragen und Sorgen
- Betonung von Unterstützung statt Defiziten
📌 Weiterführend: Hilfestellung zur Antragstellung § 35a SGB VIII
Abschließende fachliche Einordnung ¶
§ 35a SGB VIII ist kein Ausdruck pädagogischen Scheiterns, sondern eine fachlich korrekte Zuordnung komplexer Bedarfe.
Er ermöglicht:
- realistische Zielsetzungen
- rechtliche Absicherung von Teilhabe
- sinnvolle Verzahnung von Pädagogik und Therapie
- Schutz junger Menschen vor struktureller Überforderung
Gerade für Berufsanfänger:innen bietet § 35a einen klaren fachlichen Orientierungsrahmen, um psychische Belastungen angemessen zu verstehen und zu begleiten.